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Anmerkung von Prof. Hans-Ulrich Weth in info also 2011, 276-277 zu SG Berlin, Beschl. v. 30.09.2011 - S 37 AS 24431/11 ER - Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung

§ 22 Abs. 6 S. 3; §§ 39, 42a Abs. 2 S. 1 SGB II
Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung
SG Berlin, Beschl. v. 30.09.2011 - S 37 AS 24431/11 ER

Leitsatz (der Redaktion)

Eine zehnprozentige Kürzung des Regelbedarfs über einen längeren Zeitraum (hier 23 Monate) zur Tilgung eines Mietkautionsdarlehens ist unzuässig.


Anmerkung von Prof. Hans-Ulrich Weth in info also 2011, 276-277


Ohne Zahlung einer Kaution oder Stellung einer ähnlichen Sicherheit (Bürgschaft) können Wohnungsuchende in der Regel keine Wohnung mieten. Soweit Leistungsberechti­gung nach dem SGB II oder SGB XII besteht, ist bei Fehlen vorrangiger Selbsthilfemöglichkeiten die Übernahme der Kaution durch den Leistungsträger möglich und regelmäßig notwendig (§ 22 Abs. 6 SGB II, § 35 Abs. 2 Satz 4 SGB XII). Im Regelfall soll eine Mietkaution als Darlehen erbracht werden. In Rechtsprechung und Literatur bestand bislang - entgegen einer verbreiteten Verwaltungspraxis - weitgehend Übereinstimmung, dass eine sofortige Tilgung des Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung eines Teils der Regelleistung nicht statthaft ist (vgl. dazu die vom SG Berlin zitierten Fundstellen). Diese Auffassung hat der Gesetzgeber mit der seit 01.04.2011 geltenden Neuregelung in § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II zu Lasten der Leistungsberech­tigten konterkariert, indem er ausnahmslos für alle im Rahmen des SGB II gewährten Darlehen, also auch für Mietkautionsdarlehen, einen sofort greifenden Tilgungsau­tomatismus durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des Regelbedarfs konstitutiert.

1. Das SG Berlin kommt in seinem Beschluss vom 30.09.2011 zu dem begrüßenswerten Ergebnis, dass der Leistungsberechtigten die SGB II-Leistungen ohne Einbe­haltung von Tilgungsbeträgen für die Mietkaution auszu­zahlen sind. Dieses Ergebnis gewinnt das Gericht letztlich durch den Versuch einer verfassungskonformen teleologi­schen Auslegung der beiden hier ineinandergreifenden Normen des § 22 Abs. 6 Satz 3 und § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II. In rechtsdogmatischer Hinsicht wirft die Argumen­tation des Gerichts Fragen auf. Die Soll-Vorschrift des § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II lässt für atypische Fälle eine Abwei­chung vom Regelfall der darlehensweisen Gewährung der Mietkaution zu. Einen solchen Fall bejaht das Gericht hier, da von vornherein nicht erkennbar war, dass die Leistungs­berechtigte in einem angemessenen Zeitraum die Möglich­keit der Darlehensrückzahlung ohne Gefährdung ihres Exis­tenzminimums haben würde.


Diese Einschätzung wird al­lerdings für zahlreiche vergleichbare, wenn nicht sogar für alle Fälle zutreffen, in denen die Leistungsberechtigten wegen der Höhe des zu tilgenden Mietkautionsdarlehens eine zehnprozentige Reduzierung ihres notwendigen Le­bensunterhalts über einen längeren Zeitraum hinzunehmen haben. Damit würde sich das in § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II unterstellte Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren, was rechtsdogmatisch zumindest problematisch wäre. Zudem ist festzustellen, dass der eindeutige Wortlaut des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II den Leistungsträgern kein Ermessen ein­räumt, bei dem möglicherweise die Belastungssituation der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen wäre. Es er­scheint zweifelhaft, ob hier über den Weg einer verfas­sungskonformen Auslegung Abhilfe zu schaffen ist.

2. Gegen die starre Regelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II bestehen zumindest bezüglich der Verpflichtung zur Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens erhebliche ver­fassungsrechtliche Bedenken.

- Unter den üblichen Bedingungen des Wohnungsmarktes bringt die Regelung wohnungsuchende Alg II-Berechtigte in die Zwangslage, ihr Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum in Gestalt einer angemes­senen Wohnung nur bei Strafe der Kürzung ihres sons­tigen existenznotwendigen Lebensbedarfs umsetzen zu können. Sie haben dabei keine eigene Steuerungsmög­lichkeit und keine Möglichkeit, durch ihr eigenes Ver­halten Einfluss auf die Gestaltung ihrer Bedarfssituation zu nehmen. Damit werden sie zu Objekten staatlichen Handelns, ihre Subjektqualität wird prinzipiell in Frage gestellt. Das ist mit dem aus der Menschenwürde herzu­leitenden sozialen Wert- und Achtungsanpruch nicht zu vereinbaren (vgl. etwa BVerfGE 87, 209 [218]).

- Die Neuregelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II ist vom Grundgedanken der Ansparkonzeption des SGB II, die das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich im Prinzip nicht beanstandet, jedenfalls für die zwin­gende sofortige Tilgungsverpflichtung aus dem Regel­bedarf bei einem Mietkautionsdarlehen nicht gedeckt. Für den Bedarf der Erlangung einer Wohnung durch Stellung einer Mietkaution ist im Regelbedarf gem. § 20 SGB II kein Ansatz enthalten, der angespart werden könnte und Grundlage einer Aufrechnung sein könnte. Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 aufgestellte Anforderung eines schlüssigen Bedarfsbemessungssystems wird somit nicht erfüllt.

- Der mit dem Rechtsstaatssystem verbundene Verhält­nismäßigkeitsgrundsatz wird verletzt, wenn - wie vor­liegend - die Gewährung einer Mietkaution ohne Be­rücksichtigung der Einzelfallumstände von einer zwangsweisen Reduzierung des Regelbedarfs über z.T. jahrelange Zeiträume hinweg abhängig gemacht wird. In § 42a Abs. 2 Satz 1 ist für die Rückzahlung während des Leistungsbezuges noch nicht einmal die Möglich­keit einer Vereinbarung vorgesehen, wie sie etwa in Abs. 4 für die Rückzahlungsmodalitäten im Fall der Leistungsbeendigung eröffnet wird.

- Im Sozialhilferecht ist zwar ebenfalls die Gewährung der Mietkaution als Darlehen vorgesehen, die Ausge­staltung der Tilgung steht aber im Ermessen des Sozial­hilfeträgers (§§ 26, 35 SGB XII). Insofern werden SGB II-Leistungsberechtigte gegenüber Sozialhilfeberechtigten ungleich behandelt, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund gegeben ist. Die Erwerbszentrierung des SGB II ist jedenfalls kein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Handhabung. Somit liegt ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor.

3. In verfahrensrechtlicher Hinsicht zeigt der Fall die Not­wendigkeit einer prozessualen Doppelstrategie beim einst­weiligen Rechtsschutz auf, die sich als Reaktion auf die von den Job-Centern häufig praktizierte Doppelstrategie bei der Bewilligung des Mietkautionsdarlehens anbietet. Zwar verlangt § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II die Regelung der Auf­rechnung durch Verwaltungsakt. Ein Widerspruch hierge­gen hat aufschiebende Wirkung, da ein solcher Verwal­tungsakt nicht von § 39 SGB II erfasst wird.

Das Job-Center müsste in diesem Fall also die laufende Regelleis­tung ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen auszahlen, bis über den Widerspruch und eine eventuelle Klage ent­schieden ist. Nicht selten wird jedoch von den Leistungsbe­rechtigten gefordert, ihr Einverständnis mit der Darlehens­gewährung und der Tilgung aus der Regelleistung zusätzlich durch einen Vertrag zu erklären. Wollen sie sich hiervon lösen, was gem. § 46 SGB I möglich ist, bedarf es eines Antrags auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung, um eine ungekürzte Auszahlung der Regelleistung zu errei­chen.



A..A:
SG Marburg, Beschl. v. 08.12.2011 - S 8 AS 349/11 ER
Durch Tilgungsrate eines Kautionsdarlehens wird das soziokulturelle Existenzminium nicht unterschritten.

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