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BVerfG zu Hartz IV : Sind die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes im SGB II ab dem Jahre 2011 verfassungsgemäß ?



Leitsätze
1. Zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) dürfen die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden und muss die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein.
2. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich in Orientierung am Warenkorbmodell einzelne Positionen herauszunehmen. Der existenzsichernde Regelbedarf muss jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden können, oder ist durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern.

A.
Problemstellung
Sind die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes im SGB II ab dem Jahr 2011 verfassungsgemäß?
B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das BVerfG musste entscheiden, ob die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes im SGB II ab dem Januar 2011 verfassungsgemäß sind. Das SG Berlin hatte dies verneint und deshalb diese Frage dem BVerfG in zwei Normenkontrollverfahren vorgelegt. Das BSG hatte in einer Sprungrevision dagegen die Verfassungsmäßigkeit bejaht; hiergegen richtete sich eine Verfassungsbeschwerde.
Der Gesetzgeber hatte die Regelbedarfe zum 01.01.2011 neu regeln müssen, nachdem das BVerfG die bisherige Festsetzung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts für Erwachsene und Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres für die Zeit ab 2005 für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet hatte, spätestens bis zum 31.12.2010 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen (BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 „Regelsatz I“).
Die Regelbedarfe werden seit dem 01.01.2011 nicht mehr in einer Verordnung als „Eckregelsätze“, sondern gem. § 20 Abs. 5 Satz 2 SGB II i.V.m. § 28 SGB XII und dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011, BGBl I, 453) durch ein Parlamentsgesetz festgelegt.
Das BVerfG hat entschieden, dass diese Neukonzeption der Regelbedarfe nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) werde derzeit noch nicht verletzt. Insgesamt sei die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe der existenzsichernden Leistungen tragfähig begründbar. Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkte zweifelhaft sei, habe der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen. Im Einzelnen:
Es lasse sich zunächst nicht feststellen, dass die Leistungen evident unzureichend festgesetzt seien. Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf lasse nicht erkennen, dass der existenzsichernde Bedarf offensichtlich nicht gedeckt wäre.
Ferner genüge die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe. Der Gesetzgeber habe die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht, also im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt. Es sei nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert habe. Zur Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf habe sich der Gesetzgeber mit der Orientierung an der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) als statistisches Berechnungsmodell auf eine Methode gestützt, die grundsätzlich geeignet sei, die zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen bedarfsgerecht zu bemessen. Sie bilde in statistisch hinreichend zuverlässiger Weise das Verbrauchsverhalten der Bevölkerung ab.
Die vom Gesetzgeber getroffene Auswahl der für die Ermittlung des Regelbedarfs zu berücksichtigenden Referenzhaushalte sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehalten, sich bei der Bestimmung der Höhe der Regelleistungen wie zuvor bei der EVS 2003 an den unteren 20% der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte zu orientieren. Die Entscheidung, nun in Bezug auf die EVS 2008 die Gruppe nur der unteren 15% der Haushalte als Bezugsgröße zu setzen, verletze die Verfassung nicht, weil die Wahl der Referenzgruppe sachlich vertretbar sei.
Desgleichen sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den Regelbedarf bei Einpersonenhaushalten und damit die Regelbedarfsstufe 1 als Ausgangswert für die Festlegung der Höhe der Leistungen auch derjenigen Erwachsenen nutze, die mit anderen ebenfalls leistungsberechtigten Erwachsenen einen gemeinsamen Haushalt führen, also die Regelbedarfsstufe 2 für zwei erwachsene leistungsberechtigte Personen als Ehegattin und -gatte, Lebenspartnerinnen oder -partner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft. Das BVerfG habe zu dieser Frage der Bedarfsgemeinschaften bereits entschieden, dass der Bedarf einer weiteren erwachsenen Person in einer Höhe von 80% von dem statistisch ermittelten Bedarf der Alleinstehenden abgeleitet werden dürfe, da die Erhebung nach Haushalten geeignet sei, den tatsächlichen Bedarf auch für solche Lebenssituationen zu ermitteln. Dementsprechend sei die Bestimmung des Regelbedarfs zusammenlebender und gemeinsam wirtschaftender Erwachsener in Höhe von 90% des im SGB II für eine alleinstehende Person geltenden Regelbedarfs nicht zu beanstanden.
Es bestünden ferner keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass die Leistungen für den Regelbedarf anhand der Referenzgruppe der Familienhaushalte berechnet worden seien. Es sei jedenfalls im Ausgangspunkt nicht erkennbar, dass die Größe der Stichprobe nicht hinreichen würde, um den Regelbedarf statistisch zu ermitteln. Der Gesetzgeber habe schließlich auch diejenigen Haushalte aus der Berechnung herausgenommen, die in der Ermittlung existenzsichernder Bedarfe zu Zirkelschlüssen führen würden.
Nicht zu beanstanden sei, dass der Gesetzgeber diejenigen, die als sog. „Aufstocker“ neben den Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII über weiteres Einkommen verfügen, aus der Berechnung nicht herausgenommen habe; denn ihre Einkünfte würden in der Summe tatsächlich über dem Sozialhilfeniveau liegen. Auch die Haushalte in verdeckter Armut habe der Gesetzgeber nicht herausnehmen müssen, weil diese nur im Wege einer Schätzung zu beziffern seien. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen ferner nicht gehalten gewesen, all diejenigen Haushalte aus der Erfassung auszuschließen, die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz erhielten. Solche Personen hätten an der EVS 2008 ohnehin nur unter bestimmten Bedingungen teilgenommen; im Übrigen sei nicht ersichtlich, dass die Einbeziehung dieser Haushalte die Höhe des Regelbedarfs erheblich verzerre. Auch der weitere Einwand gegen die Berechnung der Regelbedarfe, Menschen mit Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz seien als Referenzhaushalte nicht ausgeschlossen worden, greife nicht durch. Das Statistische Bundesamt habe eine Sonderauswertung der EVS 2008 durchgeführt und festgestellt, dass in den berücksichtigten Haushalten mit Ausländerinnen und Ausländern aus Nicht-EU-Staaten keine sonstigen Zahlungen aus öffentlichen Kassen erfolgt waren. Damit habe der Gesetzgeber davon ausgehen dürfen, dass keine Haushalte erfasst worden seien, in denen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen wurden. In die Berechnung der Regelbedarfe habe der Gesetzgeber schließlich auch Haushalte mit Personen einbeziehen dürfen, die zuvor Arbeitslosengeld oder -hilfe erhielten. Daraus ergebe sich kein Zirkelschluss, denn ihr Nettoeinkommen habe jedenfalls zum Zeitpunkt der Erhebung über dem Leistungsniveau nach dem SGB II und XII gelegen.
Soweit von der Orientierung an den so ermittelten Daten durch die Herausnahme und durch Kürzungen einzelner Positionen abgewichen werde, bestünden im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese Herausnahme einzelner Positionen der EVS aus der Berechnung des Regelbedarfs dürfe allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das die Tauglichkeit des Modells für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder Regelbedarfe in Frage stelle. Hinsichtlich des Haushaltsstroms als gewichtige Ausgabeposition sei der Gesetzgeber angesichts außergewöhnlicher Preissteigerungen verpflichtet, nicht nur den Index für die Fortschreibung der Regelbedarfe, sondern auch die grundlegenden Vorgaben für die Ermittlung des Bedarfs zu überprüfen und, falls erforderlich, anzupassen, und dies schon vor der regulären Fortschreibung. Die Entscheidung des Gesetzgebers sei vertretbar, ein Kraftfahrzeug im Grundsicherungsrecht nicht als existenznotwendig zu berücksichtigen; allerdings seien die ohne Kraftfahrzeug zwangsläufig steigenden Aufwendungen der Hilfebedürftigen für den öffentlichen Personennahverkehr zu berücksichtigen. Die damit einhergehenden spezifischen Risiken der Unterdeckung müssten im Rahmen der nächsten Aktualisierung der Regelbedarfe bewältigt werden. Wenn aus der Gesamtsumme der ermittelten Verbrauchsausgaben nachträglich einzelne Positionen wie aus einem Warenkorb herausgenommen werden, begründe dies die Gefahr, dass mit der Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf die Kosten für einzelne bedarfsrelevante Güter nicht durchgängig gedeckt seien. Habe der Gesetzgeber Kenntnis von Unterdeckungen existentieller Bedarfe, müsse er darauf reagieren, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf gedeckt sei.
Auf die Gefahr einer Unterdeckung könne der Gesetzgeber durch zusätzliche Ansprüche auf Zuschüsse zur Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs reagieren. Fehle es „aufgrund der vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des Regelbedarfs an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen“. „Fehlt die Möglichkeit entsprechender Auslegung geltenden Rechts, muss der Gesetzgeber einen Anspruch auf einen Zuschuss neben dem Regelbedarf schaffen.“ Auf ein nach § 24 Abs. 1 SGB II mögliches Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine Reduzierung der Fürsorgeleistung um 10% durch Aufrechnung nach den §§ 42a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. 24 Abs. 1 SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden sei, könne nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen sei, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen.
Der Gesetzgeber dürfe auch grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden, wenn ein im Regelbedarf nicht berücksichtigter Bedarf nur vorübergehend anfalle oder ein Bedarf deutlich kostenträchtiger sei als der statistische Durchschnittswert, der zu seiner Deckung berücksichtigt worden sei. Zum internen Ausgleich könne aber nicht pauschal darauf verwiesen werden, dass Bedürftige Leistungen zur Deckung soziokultureller Bedarfe als Ausgleichsmasse für andere Bedarfspositionen einsetzen könnten, denn diese Bedarfe seien ebenfalls existenzsichernd zu decken. Der Gesetzgeber müsse künftig darauf achten, dass der existenznotwendige Bedarf insgesamt gedeckt sei. Dies setze voraus, dass die Bemessung der Regelbedarfe hinreichend Spielraum für einen Ausgleich lasse.
Nach der Berechnungsweise des Regelbedarfs ergebe sich „beispielsweise die Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden“. Bei ihnen bestehe eine sehr hohe Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. „So wurde für die Anschaffung von Kühlschrank, Gefrierschrank und -truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine (Abteilung 05; BT-Drs. 17/3404, S. 56, 140) lediglich ein Wert von unter 3 Euro berücksichtigt. Desgleichen kann eine Unterdeckung entstehen, wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können noch anderweitig gesichert sind (...).“
Es bestünden im Ausgangspunkt keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken gegen die Festlegung der Regelbedarfsstufen 4 und 6. Da in den Ausgangsverfahren niemand der Altersgruppe der 7- bis 14-Jährigen (Regelbedarfsstufe 5) zuzuordnen sei, sei diese nicht Gegenstand der Prüfung. Der Gesetzgeber habe sich mit der Unterscheidung in drei Altersgruppen in vertretbarer Weise an kindlichen Entwicklungsphasen ausgerichtet und an tragfähigen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Praxis orientiert. Im Einzelfall seien Bedarfe, wenn keine anderweitige Deckung besteht, über die verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts zu sichern; der Gesetzgeber sei im Übrigen auch hier verpflichtet, ernsthaften Zweifeln an der Bedarfsdeckung künftig Rechnung zu tragen.
Die Entscheidung des Gesetzgebers, die in der EVS ausgewiesenen Kosten für außerschulischen Unterricht und Hobbykurse als nicht regelbedarfsrelevant zu bewerten, sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Denn der Gesetzgeber habe Bedarfe für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe zum 01.01.2011 gesondert über das sog. „Bildungspaket“ durch § 28 SGB II gedeckt. Bildungs- und Teilhabeangebote müssten für die Bedürftigen allerdings auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein. Die Ermessensregelung zur Erstattung von weiteren tatsächlichen Aufwendungen (§ 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II) sei daher für Fahrtkosten als Anspruch auszulegen.
Die Vorgaben zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen in den Jahren, in denen keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolge, wichen – im Unterschied zur vormaligen Regelung – nicht in unvertretbarer Weise von den Strukturprinzipien der gewählten Ermittlungsmethode ab. Der Gesetzgeber komme seiner Pflicht, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie auf Preissteigerungen oder auf die Erhöhung von Verbrauchsteuern zu reagieren, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf gedeckt sei, durch die angegriffenen Regelungen im Grundsatz nach. Insbesondere die jeweils um sechs Monate verzögerte Fortschreibung halte sich im Rahmen des verfassungsrechtlich Vertretbaren.
C.
Kontext der Entscheidung
Die Neukonzeption der Regelbedarfe zum 01.01.2011 hat das BVerfG für verfassungsgemäß erklärt. Die den Ausgangsverfahren zugrundeliegenden Sachverhalte betrafen die Regelbedarfsstufen 1, 2, 4 und 6. Die Regelbedarfsstufe 5 war nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung (so Rn. 122 der Entscheidung), zur Regelbedarfsstufe 3 hat sich das BVerfG ausdrücklich nicht geäußert. Das Urteil liefert aber keinen Hinweis für die Annahme, die Regelbedarfsstufen 3 und 5 könnten verfassungsrechtlich anders zu beurteilen sein.
Wie bereits in der Entscheidung „Regelsatz I“ hat das BVerfG auch in seiner aktuellen Entscheidung „Regelsatz II“ den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums betont. Damit hat es verdeutlicht, dass der Gesetzgeber als Erstinterpret das Peloton der Verfassungsinterpreten anführt. Allerdings fährt das BVerfG dabei, bildlich gesehen, weiterhin unmittelbar an seinem Hinterrad. Es hat zahlreiche und zum Teil ganz konkrete Appelle und Anweisungen an den Gesetzgeber gerichtet, die dieser bei der Neuermittlung der Regelbedarfe auf der Grundlage der EVS, die im Jahr 2013 von den statistischen Ämtern des Bundes und der Länder durchgeführt wurde, zu beachten haben wird.
D.
Auswirkungen für die Praxis
Welche Auswirkungen hat die Entscheidung des BVerfG auf die Praxis der Normanwendung?
Das BVerfG hat nicht nur den Normgeber, sondern auch die Normanwender in die Pflicht genommen. Es hat an die Adresse der Sozialgerichte gerichtet: Fehle es „aufgrund der vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des Regelbedarfs an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen“.
Aufgrund der verpflichtenden Anordnung des BVerfG in der Entscheidung „Regelsatz I“ hatte der Gesetzgeber zum 03.06.2010 bereits den heutigen Abs. 6 in § 21 SGB II eingefügt, der einen Mehrbedarf (als Zuschuss) gewährt, „soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht“. In „Regelsatz II“ hat das BVerfG nun einmalige (also nicht laufende) Bedarfe in den Blick genommen. Dabei hat es diesmal jedoch einen anderen Weg beschritten: In „Regelsatz I“ hatte das BVerfG in seiner Rechtsfolgenanordnung einen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch für unabweisbare, laufende, nicht nur einmalige besondere Bedarf begründet und den Gesetzgeber verpflichtet, diesen einfach-gesetzlich umzusetzen. In „Regelsatz II“ hat das BVerfG dagegen nun die Sozialgerichte dazu angehalten, die bereits vorhandenen Regelungen „wie § 24 SGB II“ verfassungskonform auszulegen.
Was bedeutet dies konkret? Diese Frage stellt sich nicht nur für die in der Entscheidung ausdrücklich angesprochenen Sozialgerichte, sondern auch für die Jobcenter. Denn die Exekutive ist ebenso wie die Judikative an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG) und damit ebenfalls zur Wahrung der nach verfassungsgerichtlicher Einschätzung bestehenden verfassungsrechtlichen Vorgaben verpflichtet.
Bei erster Lektüre des Urteils mag der Eindruck entstehen, das System der Pauschalierung und Typisierung von Leistungen, das der Gesetzgeber mit dem SGB II ursprünglich entworfen hatte und das durch nachträglich eingefügte Sonder- und Mehrbedarfe (wie § 21 Abs. 6 SGB II) bereits löchrig und fragil geworden war, sei nun endgültig hinfällig. Denn welche Bedeutung hat eine Pauschalierung von Leistungen noch, wenn nicht nur für unabweisbare, laufende, besondere Bedarfe, sondern jetzt auch für einmalige Bedarfe unter bestimmten Voraussetzungen ein Zuschuss zu gewähren ist? Tritt auf diese Weise dann nicht eine auch vom BSG (allerdings in einem anderen Zusammenhang, vgl. BSG, Urt. v. 23.03.2010 - B 8 SO 17/09 R) angesprochene Harmonisierung der Existenzsicherungssysteme ein? Im SGB XII enthält der dortige § 27a Abs. 4 Satz 1 eine Öffnungsklausel, wonach der individuelle Bedarf im Einzelfall abweichend vom Regelsatz festzulegen ist, wenn ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Soweit ist das BVerfG in seiner Entscheidung „Regelsatz II“ jedoch nicht gegangen. Es hat vorausgesetzt, dass es im jeweiligen Einzelfall an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe fehlen muss (während § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII einen atypischen Bedarf voraussetzt). Allerdings stellt sich die Frage, wie die Sozialgerichte (und Jobcenter) dies im Einzelfall feststellen und ermitteln sollen. Das BVerfG hat hierzu ausgeführt, nach der Berechnungsweise des Regelbedarfs ergebe sich „beispielsweise die Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden“. Bei ihnen bestehe eine sehr hohe Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. „So wurde für die Anschaffung von Kühlschrank, Gefrierschrank und -truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine (Abteilung 05; BT-Drs. 17/3404, S. 56, 140) lediglich ein Wert von unter 3 Euro berücksichtigt.“ Die Aufzählung dieser Gebrauchsgüter durch das BVerfG ist keine verfassungsgerichtliche „Heiligsprechung“ dergestalt, dass das BVerfG sie sämtlich als existenznotwendig und damit verfassungsrechtlich geschützt ansieht, sondern eine wörtliche Wiedergabe der Verbrauchspositionen der Abteilung 05 der Sonderauswertung der EVS 2008 in ihrer Aufschlüsselung durch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3404, S. 56, unter Code 0531 100). Insbesondere bei Gebrauchsgütern mit höheren Anschaffungspreisen, die nur mit einem geringen statistischen Durchschnittswert berücksichtigt wurden, besteht nach Einschätzung des BVerfG also offenbar eine größere Gefahr einer Bedarfsunterdeckung im Einzelfall und damit ein Anlass, genauer hinzusehen – und damit einhergehend vermutlich auch eine erhöhte Begründungslast der Sozialgerichte/Jobcenter bei ablehnenden Entscheidungen. Hohe Anschaffungskosten werden auch in der Gesetzesbegründung zu der zum 01.01.2011 geänderten Nr. 3 des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB II genannt; der Gesetzgebung kam es mit dieser Gesetzesänderung darauf an, in den dort genannten Fällen „relativ hohe Ausgaben (...), die aus dem in den Regelbedarf eingerechneten Bedarf nicht gedeckt werden können“, zu erfassen (BT-Drs. 17/3404, S. 14).
Wie sollen die Sozialgerichte (und Jobcenter) dieser Gefahr einer Unterdeckung im Einzelfall begegnen? Das BVerfG beschränkt sich auf den Hinweis, die bereits vorhandenen Regelungen „wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen“ seien verfassungskonform auszulegen. In welcher Art und Weise dies geschehen soll, überlässt es damit (jedenfalls vorerst) den Sozialgerichten. Die Vorschrift des § 24 SGB II enthält unter ihrem Dach ganz unterschiedliche Regelungen; einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen sind dort in Abs. 3 normiert. Der Verweis des BVerfG auf das Urteil des BSG zum Jugendbett als Erstausstattung für die Wohnung (BSG, Urt. v. 23.05.2013 - B 4 AS 79/12 R) hilft unmittelbar nicht weiter, weil das BSG § 24 Abs. 3 (Satz 1 Nr. 1) SGB II dort nicht verfassungskonform, sondern unter Anwendung der klassischen Auslegungstopoi (insb. der Entstehungsgeschichte) ausgelegt bzw. konkretisiert hat. Der Verweis lässt aber erkennen, dass das BVerfG die dort im Ergebnis vorgenommene weite Auslegung der Erstausstattung offenbar gutheißt, möglicherweise weil es um ein Gut mit einem höheren Anschaffungspreis ging (vgl. o.). Die Aussagen des BVerfG könnten möglicherweise auch für die Abgrenzung relevant werden, unter welchen Voraussetzungen eine Ersatzbeschaffung (ursprünglich bereits vorhandener Güter) wertungsmäßig mit einer Ersatzbeschaffung (nie vorhanden gewesener Güter) vergleichbar ist (dazu z.B. von Boetticher/Münder in: LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 24 Rn. 26; Blüggel in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 24 Rn. 93, m.w.N.).
Die vom BVerfG angesprochenen Sehhilfen lassen sich dagegen von vornherein nicht unter die Sonderbedarfe bzw. einmaligen Leistungen des § 24 Abs. 3 SGB II subsumieren. Sie könnten allenfalls „therapeutische Geräte“ im Sinne der Regelung des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II sein (Blüggel in: Eicher, SGB II, § 24 Rn. 120), die jedoch nach ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut nicht für den Kauf, sondern nur für die Reparatur einen Anspruch gewährt.
Für einmalige atypische Bedarfe wird in der Literatur unter bestimmten Voraussetzungen eine analoge Anwendung der Zuschussregelung des § 21 Abs. 6 SGB II erwogen (Behrend in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 24 Rn. 33; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, K § 24 Rn. 158, Stand 2011; Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, § 21 Rn. 68).
Die Auslegung von Gesetzen findet ihre Grenze in aller Regel am möglichen Wortsinn. Fehlt die Möglichkeit entsprechender Auslegung geltenden Rechts, muss der Gesetzgeber – so das BVerfG – einen Anspruch auf einen Zuschuss neben dem Regelbedarf schaffen. Auf ein nach § 24 Abs. 1 SGB II mögliches Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine Reduzierung der Fürsorgeleistung um 10% durch Aufrechnung nach den §§ 42a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. 24 Abs. 1 SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden ist, könne nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen sei, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen.
 
 
Anmerkung zu:BVerfG 1. Senat, Beschluss vom 23.07.2014 - 1 BvL 10/12
Autor:Dr. Jens Blüggel, RiLSG
Erscheinungsdatum:30.10.2014
juris

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