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Pflege im Ausland - Vereinbarkeit der eingeschränkten Exportierbarkeit von Pflegesachleistungen der deutschen Pflegeversicherung mit der Dienstleistungsfreiheit


Ob eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit bei nur eingeschränktem Export der deutschen Pflegesachleistungen vorliegt, kann nur unter Berücksichtigung der Möglichkeit zur Inanspruchnahme von entsprechenden Sachleistungen im Aufnahmestaat beantwortet werden.

A.
Problemstellung
Die deutsche Pflegeversicherung ist als Sachleistungssystem mit pauschalierten Grenzbeträgen ausgestaltet. Bei häuslicher Pflege können Versicherte alternativ zu den Pflegesachleistungen, die einen Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung beinhalten, das Pflegegeld wählen, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen. Während die Pflegekasse für die Pflegesachleistung – je nach Pflegestufe – einen monatlichen Höchstbetrag zwischen 450 Euro (Pflegestufe 1) bis 1.550 Euro (Pflegestufe 3) übernimmt, wird das von den tatsächlichen Kosten unabhängige Pflegegeld nur in Höhe von 235 Euro (Pflegestufe 1), 440 Euro (Pflegestufe 2) oder 700 Euro (Pflegestufe 3) geleistet.
Bei einem Aufenthalt des pflegebedürftigen Versicherten im EU-Ausland kann nur der Anspruch auf Pflegegeld unbefristet mitgenommen werden (§ 34 Abs. 1a SGB XI). Dagegen ruht der Anspruch auf die Pflegesachleistung. Lediglich bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr ist die Pflegesachleistung „exportierbar“, soweit die Pflegekraft, die ansonsten die Pflegesachleistung erbringt, den Pflegebedürftigen während des Auslandsaufenthalts begleitet (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI).
B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das von der Europäischen Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren wegen eines Verstoßes der Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 AEUV (Recht auf freie Dienstleistungen) wurde durch den Fall eines Deutschen veranlasst, der sich mit seiner pflegebedürftigen Frau für die Dauer von jeweils zwei Monaten im Jahr im EU-Ausland in einem Kurhotel aufhielt. Für die Unterstützung der Pflege seiner Frau im Ausland beschäftigte er einen ausländischen ambulanten Pflegedienst; ferner musste dort ein Pflegebett angemietet werden. Auf der Grundlage der SGB XI-Regelungen leistete die Pflegekasse nur das Pflegegeld. Die Kommission sah einen Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 AEUV darin, dass bei Inanspruchnahme eines im EU-Ausland niedergelassenen Pflegedienstes während eines temporären Aufenthalts des Pflegebedürftigen im Ausland keine Kostenerstattung in Höhe der innerhalb Deutschland vorgesehenen Pflegesachleistungen erfolgt (vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak v. 18.04.2012, Rn. 22 ff.).
Der EuGH hat die Klage der Kommission abgewiesen. Diese habe nicht hinreichend dargelegt, dass die streitige Regelung die Dienstleistungsfreiheit beschränke. Bei Vertragsverletzungsverfahren obliege es der Kommission, die behauptete Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, anhand derer er eine Vertragsverletzung prüfen könne. In der Sache hat er – zu dem Spannungsverhältnis zwischen den Ansprüchen der Versicherten nach dem System der Koordinierung der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten in der VO (EG) 883/2004 und den im Primärrecht des EG-Vertrags (nunmehr AEUV) enthaltenen Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, den freien Warenverkehr und die Niederlassungsfreiheit – entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung ausgeführt, dass diese Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zu beachten seien. Diese ließen aber die Zuständigkeit des Mitgliedstaats ungeschmälert, selbst zu beurteilen, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wolle und wie dieses erreicht werden solle. Die Dienstleistungsfreiheit vermittele keinen Anspruch auf eine bestimmte Ausgestaltung des nationalen Gesundheitssystems und Bereitstellung eines bestimmten Leistungskatalogs.
Zwar erscheint bei alleiniger Betrachtung der Vorschriften des SGB XI die Schwelle der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit erreicht, weil der deutsche Pflegebedürftige im EU-Ausland bei Pflegedienstleistungen finanziell schlechter ausgestattet ist als in Deutschland bei dem dort möglichen Rückgriff auf das Sachleistungssystem der Pflegeversicherung. Der EuGH weist aber zutreffend darauf hin, dass es vom Zusammenspiel der deutschen und ausländischen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften (insbesondere der konkret in Art. 19 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 vorgesehenen Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Sachleistungen von dem Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats für Rechnung des zuständigen Trägers in Deutschland) abhängt, ob sich der deutsche Pflegebedürftige im EU-Ausland einer Erschwerung der Inanspruchnahme der dortigen Dienstleistungen gegenübersehe, die diese für ihn weniger attraktiv machten als die auf dem deutschen Markt für Pflegedienstleistungen angebotenen. Es sei möglich, dass er sich gerade in Ansehung einer womöglich großzügigeren Ausgestaltung der Sozialversicherungsleistungen im Ausland finanziell bei der Inanspruchnahme der Pflegedienstleistungen in einer besseren Lage befinde als in Deutschland. Weiter betont der EuGH, die Vorschriften des freien Dienstleistungsverkehrs könnten einem Versicherten nicht garantieren, dass ein örtlicher Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat u.a. in Bezug auf Leistungen bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit neutral sei.
Bezogen auf die Miete von Pflegehilfsmitteln in einem anderen Mitgliedstaat habe die Kommission auf die von der Bundesrepublik Deutschland dargelegte und nach der Sozialrechtskoordinierung bestehende Möglichkeit, dass ein pflegebedürftiger Versicherter in einem anderen Mitgliedstaat neben in Deutschland bereits finanzierten gleichartigen Hilfsmitteln weitere Pflegehilfsmittel und damit „Doppelleistungen“ erhalte, nicht in zweckdienlicher Weise geantwortet.
C.
Kontext der Entscheidung
Der EuGH hat erneut den seit dem Urteil vom 05.03.1998 (C-160/96 „Molenaar“) geltenden Grundsatz betont, dass Leistungen im deutschen Pflegeversicherungssystem in Ermangelung von Vorschriften zur Koordinierung speziell der Pflegeleistungen ungeachtet bestimmter Besonderheiten den „Leistungen bei Krankheit“ (Art. 3 Abs. 1 lit a. VO (EG) 883/2004) gleichgestellt seien. Gleichwohl bestünden – bezogen auf eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit – Unterschiede, weil die das Risiko der Pflegebedürftigkeit betreffenden Leistungen grundsätzlich nicht darauf angelegt seien, nur für kurze Zeit erbracht zu werden.
Weiter ist das hier besprochene Urteil im Zusammenhang mit dem Urteil des EuGH vom 16.07.2009 (C-208/07 - SozR 4-6050 Art. 19 Nr. 3 „von Chamier-Glaczinski“; vgl. Pade, jurisPR-SozR 22/2009 Anm. 1) zu sehen. In dieser Entscheidung hatte der EuGH eine Exportfähigkeit von Sachleistungen der deutschen Pflegeversicherung unmittelbar aufgrund von primärem Gemeinschaftsrecht (Freiheit von Unionsbürgern) verneint, wenn die Vorschriften der Verordnung mangels Sachleistungssystem im Wohnsitzstaat keinen Export ermöglichten.
D.
Auswirkungen für die Praxis
Zwar enthält die Entscheidung keine abschließenden Antworten, weil die Europäische Kommission der ihr im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens obliegenden Nachweispflicht hinsichtlich des Vorliegens einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nicht ausreichend nachgekommen ist. Gleichwohl können die umfangreichen Hinweise des EuGH zur Inanspruchnahme von Sachleistungen des vom Träger des Aufenthaltsmitgliedstaats für Rechnung des zuständigen Trägers so verstanden werden, dass er eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit bei den regelmäßig für lange Zeiträume zu erbringenden Pflegesachleistungen wegen der nur im jeweiligen EU-Land möglichen Zulassungs- und Qualitätsprüfungen bei Versorgungsverträgen nach nationalen Standards für zulässig hält.
Zu den angesprochenen Fallgestaltungen, in denen neben den Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit des Herkunftslandes auch eine für denselben Zweck vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsortes in einem anderen Mitgliedstaat bestehende Sachleistung beansprucht werden kann, enthält Art. 34 VO (EG) 883/2004 – als einzige Vorschrift der „neuen Sozialrechtskoordinierung“ zum Pflegerisiko und den damit zusammenhängenden Leistungen – eine Anrechnungsbestimmung (vgl. u.a. hierzu ausführlich Spiegel, ZESAR 2013, 209).
E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Der EuGH hat ausdrücklich betont, dass die Klage nicht gegen das deutsche Vertragssystem zur Erbringung von Leistungen der häuslichen Pflege gegenüber Pflegebedürftigen gerichtet sei. Prüfgegenstand war daher nicht der Umstand, dass ausländische Diensteanbieter schon deswegen generell vom Sachleistungssystem ausgeschlossen sind, weil sie mit der Pflegekasse keine Versorgungsverträge abgeschlossen haben.
 
 
Anmerkung zu:EuGH 2. Kammer, Urteil vom 12.07.2012 - C-562/10
Autor:Nicola Behrend, Ri'inBSG
Erscheinungsdatum:23.01.2014 Quelle: juris Behrend, jurisPR-SozR 2/2014 Anm. 1 

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