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Lieber Sexarbeit als Hartz IV

Prostitution abschaffen, fordert Alice Schwarzer. Damit stößt sie auf scharfe Kritik, auch von Prostituierten. Wir diskutieren live ab 13 Uhr mit einer Sexarbeiterin. Ein Leserartikel von Lady Hekate
Der Anruf des Redakteurs unserer Lokalzeitung kam aus heiterem Himmel: "Ich habe da so einen merkwürdigen Brief bekommen, in dem es um Sie geht. Könnten Sie mal in der Lokalredaktion vorbei kommen? Es ist 'ne ziemlich schmutzige Angelegenheit..."
Als ich nichtsahnend das Büro des Redakteurs betrat, zeigte er mir mit undurchdringlichem Gesicht einen Ausdruck der von mir selbst erstellten Homepage, auf der ich seit einigen Monaten erotische Dienstleistungen anbiete:
 Ein frecher Text, einige freizügige Fotos und meine Handynummer.

Neben dem Ausdruck lag ein anonymer Brief. Vier Zeilen, triefend vor Selbstgerechtigkeit und Voyeurismus, in denen jemand auf den Zusammenhang zwischen mir und eben dieser Homepage hinwies. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass besagter Redakteur sich im Vorfeld schon bei seinem Vorgesetzten rückversichert hatte und der Artikel über mich in diesem Augenblick bereits fix und fertig geschrieben in der Schublade lag.
Was tut jemand, der aus dem Hinterhalt attackiert und mit etwas konfrontiert wird, das er zwar gern tut, aber nicht unbedingt an die große Glocke gehängt haben will? Er dementiert. Also dementierte ich. Und machte damit alles nur noch schlimmer. Selbstverständlich ließ sich der Redakteur diese pikante Geschichte nicht entgehen. Sie wurde in mehreren Ausgaben ausführlich diskutiert. Mein bürgerlicher Name tauchte zwar nirgends auf, aber wer mich kannte, musste nur zwei und zwei zusammenzählen. Und so ließen die Kollateralschäden nicht lange auf sich warten. Innerhalb weniger Wochen waren mein Mann und ich gesellschaftlich isoliert.

Die braven Bürger gehen auf Abstand

Der erste, der auf Abstand ging, war der Spielleiter der Amateurtheatertruppe, in der ich seit gut einem Jahr erfolgreich mitgewirkt hatte. Zur ersten Probe nach Erscheinen des Zeitungsartikels erschien er total aufgeregt und mit der Bemerkung, er sei stocksauer. "Ich mache schließlich auch Kinder- und Jugendtheater. Was soll ich denn den Leuten sagen, wenn sie mich fragen, was diese Prostituierte im Ensemble zu suchen hat?" Nach einigen unerfreulichen Diskussionen innerhalb der Truppe beschloss ich, das Ensemble zu verlassen.
Es folgte eine Unterredung mit dem Vorsitzenden der Regionalabteilung meines Journalistenverbandes, wo ich schon seit einigen Jahren als Beisitzerin im Vorstand saß. Er legte mir den Rücktritt nahe.
Es folgte das freundliche Anschreiben der Leiterin der Kinder- und Jugendbibliothek, wo ich seit rund einem Jahr in unregelmäßigen Abständen den Kindern vorgelesen hatte. Sie müsse leider in Zukunft auf meine Dienste verzichten.
Beim Presbyterium meiner Kirchengemeinde, in dem ich ebenfalls seit rund eineinhalb Jahren Mitglied war, habe ich selbst die Reißleine gezogen und meinen Rücktritt erklärt.


Durch die Erwerbslosigkeit zur Sexarbeit

All diese ehrenamtlichen Tätigkeiten liefen parallel zu meiner Arbeit als Sexworkerin, oder besser gesagt: als Hobbyhure. Und ich habe darin nie einen Widerspruch gesehen. Ganz im Gegensatz zu meinem brav-bürgerlichen Umfeld.
 Aber wie hätte ich reagieren sollen, als mich der eifrige Lokalchef meiner Heimatzeitung mit den Früchten seiner Recherche konfrontierte? Hätte ich sagen sollen: "Ja, das ist meine Homepage – und wie gefällt sie Ihnen? Haben Sie vielleicht einen Job für mich?"
Ich bin durch die Erwerbslosigkeit zur Sexarbeit gekommen, genauer gesagt durch Hartz IV. Nachdem ich ein halbes Jahr Leistungen bezogen und alle geforderten Weiterbildungen brav mitgemacht hatte, kam eine Mitteilung des zuständigen Jobcenters: die Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch würden vorübergehend ausgesetzt. Wir seien vermögend, womit unser noch nicht abbezahltes Eigenheim gemeint war. 
Rund vier Wochen nach dieser Hiobsbotschaft bekam ich nach langem Suchen einen Arbeitsvertrag: Callcenter in der benachbarten Großstadt. Teilzeit, 80 Stunden im Monat, 7,50 Euro pro Stunde. Kein Traumjob, aber besser als nichts. Das Problem war: Die Monatskarte für den öffentlichen Personennahverkehr kostete 70 Euro. Das Geld hatte ich nicht, und
 mein Antrag auf Mobilitätsbeihilfe beim Jobcenter wurde abgelehnt.
Dann bekam ich ein unmoralisches Angebot – und griff zu. Das Problem mit den Fahrtkosten war gelöst, einige andere auch. Seitdem fahre ich beruflich zweigleisig. Wenn ich es nicht täte, müsste ich aufstocken.
 Soweit die Geschichte meines Outings und wie ich zu der wurde, die ich bin.
Was ich daraus "gelernt" habe? Dass einem nach manchen Erfahrungen nur wenige
 Menschen bleiben, die man als Freunde bezeichnen kann, aber auf die ist dann auch Verlass.
 Und ich bin ein bisschen dünnhäutiger geworden und hellhöriger für die Doppelbödigkeit und Doppelzüngigkeit der Gesellschaft, in der ich lebe.
 Und richtig zornig werden kann ich über die Verbohrtheit und Selbstgerechtigkeit der "guten Bürger", von denen übrigens einige kräftig am Erotikgewerbe mitverdienen. Sei es als Vermieter, die Wuchermieten kassieren, sei es als Herausgeber von Tageszeitungen, die für Kontaktanzeigen total überhöhte Preise nehmen, oder als Hintermänner und Nutznießer von Großbordellen.
Ich bin keine Großverdienerin. Was die Auftragslage angeht, so gibt es bei mir wie bei anderen Freiberuflern auch Berge, Täler und Tiefebenen. Wenn es gut läuft, kommt monatlich ein dreistelliger Betrag dabei heraus, der uns in bescheidenem Maße das ermöglicht, was man gesellschaftliche Teilhabe nennt.

Ich habe getan, was die Neoliberalen predigen

Niemand kann mir einen Vorwurf machen. Ich liege nicht der Allgemeinheit auf der Tasche, sondern habe das getan, was uns von den Verfechtern des Neoliberalismus ständig gepredigt wird: Ich habe festgestellt, dass es für das, was ich anzubieten habe, einen Bedarf gibt und habe mir meinen Arbeitsplatz selbst geschaffen. Ja, ich verdiene einen Teil meines Lebensunterhaltes mit Sexarbeit und ich bin froh, dass ich mit über 50 diese Möglichkeit für mich entdeckt habe.
Ich bin dankbar, dass ich das Talent habe, Männer zum Träumen zu bringen, sie zu
 verwöhnen, ihre Sorgen anzuhören, die blauen Flecken auf der Seele wegzustreicheln und die Blessuren eines immer unmenschlicher werdenden Arbeitsalltags zumindest zeitweise vergessen zu machen.
Meine Gäste danken es mir mit Vertrauen und Respekt.
 Wenn ich vergleiche, wie die Kommunikation zwischen mir und meinen Gästen vonstatten geht und wie ich beim Jobcenter behandelt wurde, dann hat sich meine Situation zumindest in diesem Punkt entschieden verbessert. Ich gehe so weit zu behaupten, dass ich durch meine Gäste einen Gutteil des Selbstbewusstseins zurückgewonnen habe, der mir im Jobcenter abhanden gekommen war.
Einen Schönheitsfehler hat die ganze Sache aber doch: Ich bin keine typische Hure, jedenfalls nicht in den Augen von Alice Schwarzer. Sie charakterisiert mich und meinesgleichen in einem Interview in der Welt folgendermaßen:
"Sie (die Prostituierten deutscher Herkunft, im Unterschied zu den Migrantinnen) sind entweder in das Milieu hineingeboren worden. Oder sie haben schon als Kind lernen müssen, gefügig zu sein, sich mit Sex Zuneigung zu erkaufen, sind also Opfer von Missbrauch. Irgendwann stellen sie dann fest, dass es dafür sogar Geld gibt und ein bisschen Macht. Aber die verfliegt schnell. Was bleibt ist: Drei von vier Prostituierten sind abhängig von Drogen und Alkohol, zwei von drei werden im Job vergewaltigt, zwei von drei leiden unter posttraumatischen Störungen."
Die Frau muss es wissen. Ich lese das und fange an zu grübeln: Ich bin weder Junkie noch Alkoholikerin. Heißt das, dass ich ungeeignet bin für meinen Job als Hobbyhure? Immerhin: Posttraumatische Störungen habe ich. Dafür hat das Jobcenter gesorgt. Und zwar so gründlich, dass ich lieber auf den Straßenstrich gehen würde, als mich noch einmal in die Klauen dieser Institution zu begeben.
Wie soll die Gesellschaft mit Prostitution umgehen? Wie differenziert man zwischen Selbstbestimmung und Zwang? Ab 13 Uhr diskutiert Lady Hekate mit Ihnen im Kommentarbereich und gibt Auskunft über ihre Erfahrungen als Sexarbeiterin.
 ZEIT Online

Kommentare

  1. "Posttraumatische Störungen habe ich. Dafür hat das Jobcenter gesorgt. Und zwar so gründlich, dass ich lieber auf den Straßenstrich gehen würde, als mich noch einmal in die Klauen dieser Institution zu begeben."
    - das ist starker Tobak.

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