Direkt zum Hauptbereich

LSG Schleswig-Holstein: Slowakische Staatsangehörige hat Anspruch auf ALG II - Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums

Nach Auffassung des vom heutigem Tage veröffentlichtem, rechtskräftigem Beschluss des LSG Schleswig-Holstein, Az. L 6 AS 29/13 B   sind die Leistungen für die im Frauenhaus untergebrachte Antragstellerin allerdings auf ihr Existenzminimum zu begrenzen.

Dieses beträgt nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz vom 18. Juni 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 , Rn. 134 f) 336,00 EUR monatlich (in diesem Sinne auch LSG Potsdam, Beschluss vom 23. Juli 2012 - L 18 AS 1867/12 B ER ).


Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand bestehen erhebliche Zweifel daran, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für EU-Bürger Anwendung finden kann.
Auch das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem Pressebericht zum Verfahren B 4 AS 54/12 R (Terminbericht vom 30. Januar 2013) ausdrücklich die Frage aufgeworfen, ob der gesetzlich festgeschriebene unbegrenzte Ausschluss von Unionsbürgern gegen EU-Recht – insbesondere die VO (EG) Nr. 883/2008 – verstößt, diese Frage allerdings nicht abschließend entschieden, da im zu entscheidenden Fall aufgrund der Vorwirkungen der Geburt eines Kindes bereits ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bestand.

Mit guten Gründen wird von den Instanzgerichten bezweifelt, dass der generelle Leistungsausschluss wegen vorrangiger Regelungen des Rechts der Europäischen Union auf Antragsteller mit der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union Anwendung finden kann (in diesem Sinne Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 1. Oktober 2012 - L 7 AS 3836/12 ER-B -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Juni 2012 - L 7 AS 515/12 B ER -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Mai 2012 - L 6 AS 412/12 B ER -; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2012 - L 14 AS 763/12 B ER -; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER ).

Es gibt allerdings auch Landessozialgerichte, die von einer Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht ausgehen (u. a. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. August 2012 - L 13 AS 2355/12 ER B -; Landessozialgericht Niedersachen-Bremen, Beschluss vom 3. August 2012 - L 11 AS 39/12 B ER -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. September 2012 -L 7 AS 758/12 B ER -; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Mai 2012 - L 20 AS 802/12 B ER ).

Der Senat hat erhebliche Bedenken gegen die in der Rechtsprechung teilweise vertretene Auffassung (so etwa: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. September 2012 - L 5 AS 2049/12 B ER -; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juni 2012 - L 20 AS 2/12 B ER -; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER -; Landessozialgericht Niedersachen-Bremen, Beschluss vom 3. August 2012 - L 11 AS 39/12 B ER -; Peters in: Estelmann, SGB II, Stand: Ergänzungslieferung Nr. 26, § 7 Rn. 14),

dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG – sog. Unionsbürgerrichtlinie – auch gedeckt ist, soweit Leistungen zum Lebensunterhalt begehrt werden

(wie hier: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 1. Oktober 2012 - L 7 AS 3836/12 ER B -; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2012 - L 14 AS 773/12 B ER -; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. August 2011 - L 15 AS 188/11 B ER -; Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER -; Thie/Schoch in: LPK SGB II, 4. Aufl., § 7 Rn. 28, 31).


Nach dieser Richtlinie ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen bzw. gleichgestellten Personen während der ersten Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums einen Anspruch auf Sozialhilfe zuzuerkennen.

Nach Auffassung des Senats sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige nicht als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie anzusehen.

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat in seinem Beschluss vom 29. April 2012 – L 14 AS 763/12 B ER – überzeugende Gründe dafür genannt, dass der Ausschluss von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie nur auf Sozialhilfe im engeren Sinne (also nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)) bezogen werden darf, denn nur insoweit liegt kein Arbeitsmarktbezug vor.

Dieser Auslegung steht auch nicht entgegen, dass das BSG (Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 14 AS 23/10 R -) das SGB II als Fürsorgegesetz im Sinne der Europäischen Fürsorgerichtlinie bezeichnet hat, da sich diese Ausführungen allein auf die Terminologie des Vertrages nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) aus dem Jahr 1953 und nicht auf die aktuelle gemeinschaftsrechtliche Terminologie bezog.

Dem Sozialgericht ist allerdings zuzugeben, dass der Meinungsstand außerordentlich heterogen ist und auch die Entscheidung des BSG vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R – bisher nur Pressebericht) keine Klarheit schafft.

Daher ist eine Folgenabwägung vorzunehmen, die entgegen dem Sozialgericht jedoch zu Gunsten der Antragstellerin ausfällt.


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 01.03.2013 - L 6 AS 29/13 B

Eigene Leitsätze:

Slowakische Staatsangehörige hat Anspruch auf ALG II, denn es bestehen erhebliche Zweifel daran, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für EU-Bürger Anwendung finden kann.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige sind nicht als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie anzusehen(ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.04.2012 - L 14 AS 763/12 B ER).

Der Meinungsstand ist außerordentlich heterogen und auch die Entscheidung des BSG vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R – bisher nur Pressebericht) schafft keine Klarheit . Daher ist eine Folgenabwägung vorzunehmen, die Leistungen sind allerdings auf ihr Existenzminimum zu begrenzen.


Dieses beträgt nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz vom 18. Juni 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 , Rn. 134 f) 336,00 EUR monatlich (in diesem Sinne auch LSG Potsdam, Beschluss vom 23. Juli 2012 - L 18 AS 1867/12 B ER, für einen ungarischen Staatsbürger).


Anmerkung:

Ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für EU-Bürger Anwendung finden kann und auch das BSG hat in seiner Entscheidung vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R – bisher nur Pressebericht) keine Klarheit geschaffen.

Das soziokulturelle Existenzminimum ist stets und vorbehaltslos sicherzustellen, folgt die Gewährung dieses Existenzminimums doch unmittelbar aus der jedem Menschen innewohnenden Menschwürde.

Gerne beraten und vertreten wir Sie in allen Fragen rund um das ALG II, ein Team von Experten erwartet Sie.


Der Beitrag wurde erstellt vom Detlef Brock - langjähriger Sozialberater des RA L. Zimmermann.

 





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Zu: SG Nürnberg - Sind die Einladungen der Jobcenter nichtig? Folgeeinladungen der Jobcenter wegen einem Meldeversäumnis sind nichtig und unwirksam

sozialrechtsexperte: Nürnberg: Sind die Einladungen der Jobcenter nichtig? Hier der Ausgang, wie er nicht anders zu erwarten war: Ausgang des Verfahrens S 10 AS 679/10 wegen Nichtigkeit von Meldeaufforderungen « Kritische Standpunkte Dazu Anmerkungen von Detlef Brock, Teammitglied des Sozialrechtsexperten: SG Nürnberg v. 14.03.2013 - S 10 AS 679/10 Eigener Leitsatz 1. Folgeeinladungen des Jobcenters wegen einem Meldeversäumnis sind - nichtig und unwirksam, weil  § 309 SGB III keine Rechtsgrundlage dafür ist, Hilfeempfänger die Pflicht zum Erscheinen zu einer Anhörung zu Tatbeständen einer beabsichtigen Sanktion aufzuerlegen. 2. Eine Folgeeinladung ist zu unbestimmt, weil der genannte Inhalt der Meldeaufforderung nicht als gesetzlicher Meldezweck im Sinne des Katalogs des § 309 Abs. 2 SGB III ausgelegt werden kann.

Kann ein Leistungsbezieher nach dem SGB II für seinen unangemessenen Stromverbrauch keine Gründe benennen, muss das Jobcenter seine Stromschulden nicht übernehmen.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 22 Abs. 8 des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II). Danach können Schulden übernommen werden, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden und soweit die Schuldübernahme zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertig und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vermögen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II ist vorrangig einzusetzen. Geldleistungen sollen als Darlehen gewährt werden.  Die Rechtfertigung der Schuldenübernahme ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, in den auch Billigkeitserwägungen einfließen (Beschluss des erkennenden Senats vom 2. Juni 2009 – L 14 AS 618/09 B ER). Mit rechtskräftigem Beschluss vom 23.09.2011 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg , - L 14 AS 1533/11 B ER - geurteilt, dass Gründe für einen "unangemessenen" Stromverbrauch in einem einstwe

Die Versicherungspauschale von 30 EUR nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-VO kann von einem einzelnen Einkommen einer Bedarfsgemeinschaft nur einmal abgezogen werden.

§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-VO Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil vom 06.06.2011, - L 1 AS 4393/10 - Die Versicherungspauschale von 30 EUR nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-VO kann von einem einzelnen Einkommen einer Bedarfsgemeinschaft nur einmal abgezogen werden(BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 51/09 R-; Rdnr. 4). Eine erneute Berücksichtigung scheidet auch dann aus, wenn eine sog. gemischte Bedarfsgemeinschaft vorliegt und Einkommen eines nichtbedürftigen Mitglieds einem bedürftigen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zugerechnet wird. https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=144213&s0=&s1=&s2=&words=&sensitive = Anmerkung: 1. Vom Einkommen volljähriger Hilfebedürftiger ist ein Betrag in Höhe von 30 Euro monatlich für die Beiträge zu privaten Versicherungen, die nach Grund und Höhe angemessen sind, gemäß § 11 Abs 2 Nr 3 SGB II als Pauschbetrag abzusetzen (§ 6 Abs 1 Nr 1 Alg II-V ). Diese Pauschale in Höhe von 30 Euro ist