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Sind die neuen Hartz-IV-Sätze verfassungskonform?

Sozialgericht Duisburg,Urteil vom 20.03.2012,- S 17 AS 2049/11 -,Sprungrevision zugelassen

In der bestehenden Höhe der Regelbedarfe ist keine Verletzung von Grundrechten zu erkennen.

Auch unmittelbar aus der Verfassung kann die Klägerin keinen höheren Leistungsanspruch ableiten. Zum einen kann das Grundgesetz selbst keinen bezifferten Leistungsanspruch vorgeben. Zum anderen verstößt aber nach Ansicht der Kammer das SGB II in Bezug auf die Höhe der Regelbedarfe auch nicht gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinen Urteilen vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) konkretisiert hat.


Insoweit folgt die Kammer den überzeugenden und umfassenden Ausführungen des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 10.06.2011 – L 12 AS 1077/11, sowie den Begründungen der Urteile des SG Aachen, Urteil vom 20.07.2011 – S 5 AS 177/11 und des SG Oldenburg, Urteil vom 10.01.2012 – S 48 AS 1136/11 und macht sie sich zu Eigen. Eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG kommt daher nicht in Betracht.

Die Kammer kann in der bestehenden Höhe der Regelbedarfe keine Verletzung von Grundrechten erkennen. Insbesondere sieht sie eine Verletzung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG ableitet, nicht als gegeben an. Dass ein solches Grundrecht existiert, hat das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 festgestellt. Dabei hat es jedoch auch ausgeführt, dass dieses Grundrecht der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber bedarf (aaO RN 133).



 Es ist also nur der grundsätzlich bestehende Leistungsanspruch in der Verfassung verankert. In seiner Höhe und konkreten Ausgestaltung ist dieser Anspruch jedoch durch den parlamentarischen Gesetzgeber zu konkretisieren (vgl. LSG Ba-Wü aaO, RN 26 mwN, BVerfG – 1 BvL 1/09, RN 136, ebenso auch Groth, Entspricht die neue Regelleistungen den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts? in NZS, S. 571 ff und Groth/Siebel-Huffmann, Das neue SGB II, NJW 2011, 1105 ff).).

Bei der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs hat der parlamentarische Gesetzgeber sich an die grundgesetzlichen Vorgaben gehalten und alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten, sachgerechten, nachvollziehbaren und schlüssigen Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf auf der Grundlage verlässlicher Zahlen berechnet, wie es das BVerfG gefordert hat (vgl. BVerfG aaO, RN 139 und 142).


Dazu hat er sich im Wege der Auswertung von Einkommens- und Verbraucherstichproben (EVS 2008) auf das nachgewiesene tatsächliche Verbrauchsverhalten unterer Einkommensgruppen gestützt. Dieses Verfahren hat das BVerfG für sachgerecht gehalten, da damit der physische und soziokulturelle Bedarf empirisch abgebildet würde. Die Konzentration der Ermittlung auf die Verhältnisse der unteren Einkommensgruppen sei sachlich angemessen, da in höheren Einkommensgruppen in wachsendem Umfang Ausgaben über das Existenznotwendige hinaus getätigt würden (BVerfG aaO RN 163 ff, 165).


Die Bedenken der Klägerin, dass der Gesetzgeber in verfassungswidriger Weise von den Vorgaben des BVerfG abgewichen sei, teilt die Kammer nicht.


Zunächst ist die Zusammensetzung der in die EVS 2008 eingeflossenen Referenzhalshalte in qualitativer Hinsicht nicht zu beanstanden. Sie beruht auf sachgerechten Erwägungen des Gesetzgebers und verletzt nicht die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG. Der Gesetzgeber hat die Auswahl der in die EVS 2008 eingegangenen Referenzhaushalte damit begründet, dass nur Haushalte in der Referenzgruppe sein sollen, die von Einkünften oberhalb des Existenzminimums leben. Um Zirkelschlüsse zu vermeiden, hat er dabei SGB II Bezieher und Sozialhilfebezieher ausgeschlossen. Die Ansicht der Klägerin, der Gesetzgeber habe doch Zirkelschlüsse gezogen, indem er bestimmte Gruppen von Leistungsbeziehern in der Referenzgruppe belassen habe, sieht die Kammer durch die Gesetzesbegründung widerlegt.

Die Entscheidung, Wohngeldbezieher mit einzubeziehen, hat der Gesetzgeber damit begründet, dass Wohngeld ohnehin nur dann geleistet wird, wenn dadurch die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II und SGB XII vermieden wird (BT Drs. 17/3404, S. 87 ff, 88).



Damit liegen Wohngeldbezieher über dem SGB II und SGB XII Standard, so dass ein Zirkelschluss ausgeschlossen ist. Personen, die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) erhalten, sind nur dann in die EVS 2008 eingegangen, wenn sie einen eigenen Haushalt haben. Ein genereller Ausschluss war hier nicht notwendig, weil der Bezug dieser Leistungen keine Rückschlüsse auf die Einkommenshöhe zulässt. Die Leistungen decken ausbildungsspezifische Bedarfe ab und sind auf die besondere Situation während einer Ausbildung, insbesondere eines Studiums, zugeschnitten. Sofern bei BAFöG Beziehern nicht ausbildungsbedingte Bedarfe, die nicht aus eigenen Mitteln gedeckt werden können, besteht ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII.


In diesem Fall hat der Gesetzgeber die betreffenden Haushalte nicht mit in die Referenzhaushalte eingerechnet. Bezieher von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mussten deswegen nicht ausgeschlossen werden, weil sie in der Regel keinen eigenen Haushalt führen und daher gar nicht befragt wurden. Sofern sie doch in einem eigenen Haushalt leben, wurden Asylbewerber nur befragt, wenn sie über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen. Daraus ergab sich im Ergebnis, dass Leistungsbezieher nach dem Asylbewerberleistungsgesetz so gut wie nicht an der EVS teilnehmen. Die Entscheidung, sogenannte "Aufstockerhaushalte" mit einzubeziehen begründet der Gesetzgeber schließlich damit, dass die als Anreiz für eine Arbeitsaufnahme gewährten Freibeträge ein über dem Existenzminimum liegendes Einkommen zur Folge hätten (vgl. zum Ganzen auch ausführlich LSG Ba-Wü, a.a.O, RN 29).



Die Entscheidung des Gesetzgebers zur Zusammensetzung der Referenzgruppen widerspricht auch nicht den Vorgaben des BVerfG, das in seinem Urteil vom 09.02.2010 lediglich verlangt, dass die zugrundegelegte Referenzgruppe zuverlässig oberhalb der Sozialhilfeschwelle liegt. In diesem Zusammenhang billigte das Gericht bezogen auf die (ältere) EVS 2003 sogar das Konzept des "überwiegenden" Lebensunterhaltes, demzufolge nur solche Personen konsequent ausgeschlossen waren, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Leistungen der Sozialhilfe bestritten haben. Es blieb aber unberücksichtigt, ob die Person möglicherweise trotzdem auf Sozialhilfeniveau lebte (vgl. dazu Groth aaO, S. 573 mit instruktivem Beispiel).


Das Konzept der neuen EVS 2008 ist dem vom BVerfG gebilligten Konzept (BVerfG aaO, RN 166) insoweit sogar deutlich überlegen (ebenso Groth, aaO, S. 573, PKH Beschluss des SG Duisburg vom 01.09.2011, S 39 AS 1084/11).

Hinsichtlich des Phänomens der "verschämt Armen", d.h. derjenigen Personen, die ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen, hat das BVerfG es für vertretbar erachtet, dass der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, den Anteil solcher Haushalte auf empirisch unsicherer Datengrundlage zu schätzen (BVerfG aaO, RN 169).




Dem Gesetzgeber wurde lediglich aufgegeben, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unterhalb der Sozialhilfeschwelle liegen, aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden – soweit dies möglich ist (BT Drs. 17/3404, S. 88). Solange es keine empirische Datengrundlage für diese Gruppe gibt, ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, eine solche Zahl zu schätzen, sondern darf sie unberücksichtigt lassen (PKH Beschluss des SG Duisburg vom 01.09.2011, S 39 AS 1084/11, vgl. auch Groth aaO, S. 573).

Auch die Entscheidung des Gesetzgebers, die unteren 15% der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte als Grundlage für die Bedarfsermittlung anzusetzen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bei dieser Festlegung handelt es sich um eine zulässige politische Entscheidung. Zwar stützte sich die Vorgängerregelung noch auf die untersten 20 %, doch hat das BVerfG dazu ausdrücklich ausgeführt, dass es nicht zu prüfen habe, "ob die Wahl einer andere Referenzgruppe, zum Beispiel des zweiten Zehntels oder Dezils angemessener gewesen wäre" (BVerfG aaO, RN 168).



Da die Referenzgruppen der EVS 2008 qualitativ anders zusammengesetzt sind als die der Vorgängerregelung, liegen sachliche Erwägungen dafür vor, dass der Gesetzgeber nunmehr einen geringeren Anteil berücksichtigt (vgl. auch LSG Ba-Wü, aaO RN 30 mwN).
Ebenso führt der weitere Kritikpunkt der Klägerin, dass der Gesetzgeber durch die Herausnahme einzelner Produkte wie z.B. Tabak oder Alkohol das gewählte Statistikmodell verfälsche und unzulässig mit dem Warenkorbmodell vermische, nach Ansicht der Kammer nicht zu einer Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfe. Die Entscheidung, welche Ausgaben zum Existenzminimum zählen, muss auf sachgerechten und vertretbaren Erwägungen beruhen und sich auf eine zuverlässige empirische Grundlage stützen lassen. Sie ist ansonsten aber eine wertende Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers und liegt im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraumes (LSG Ba-Wü, aaO RN 31 mwN zu den einzelnen ausgeschlossenen Verbrauchsprodukten).

Kommentare

  1. Meines Erachtens ein Urteil, das an der Realität absolut vorbeigeht.

    Mir wurde von einem Anwalt erzählt, dass er erfahren habe, es gäbe eine Anweisung an die Sozialgerichte Regelbedarfsklagen abzubügeln. Ist da etwas bekannt?

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  2. Meines Erachtens ein Urteil, das an der Realität absolut vorbeigeht.

    Mir wurde von einem Anwalt erzählt, dass er erfahren habe, es gäbe eine Anweisung an die Sozialgerichte Regelbedarfsklagen abzubügeln. Ist da etwas bekannt?

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