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Gewährung von Prozesskostenhilfe, denn die zum 01.01.2011 in Kraft getretene Änderung der Regelsätze nach der Anlage zu § 28 SGB XII ist wo möglich verfassungswidrig

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen,Beschluss vom 06.02.2012, - L 20 SO 527/11 B -

Gemäß § 27a Abs. 2 SGB XII (in der Fassung des Artikel 3 Nr. 8 RBEG) ergibt der gesamte notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 der Vorschrift - mit Ausnahme der Bedarfe nach dem Zweiten bis Vierten Abschnitt - den Regelbedarf (Satz 1). Dieser ist in Regelbedarfsstufen unterteilt, die bei Kindern und Jugendlichen altersbedingte Unterschiede und bei erwachsenen Personen deren Anzahl im Haushalt sowie die Führung eines Haushalts berücksichtigen (Satz 2). Zur Deckung der Regelbedarfe, die sich nach den Regelbedarfsstufen der Anlage zu § 28 SGB XII ergeben, sind nach § 27a Abs. 3 SGB XII monatliche Regelsätze zu gewähren, die gemäß § 42 Nr. 1 SGB XII auch von den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst sind. Dabei sieht die Anlage zu § 28 SGB XII gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 RBEG ab dem 01.01.2011 eine Regelbedarfsstufe 3 i.H.v. 291,00 EUR für erwachsene leistungsberechtigte Personen vor, die - wie der Kläger - weder einen eigenen Haushalt noch als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher bzw. lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft einen gemeinsamen Haushalt führen.


Hat die Beklagte der Leistungsbewilligung somit zwar ab dem 01.04.2011 die Regelbedarfsstufe entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zugrundgelegt, so ist es allerdings - dem Vorbringen des Klägers folgend - durchaus möglich und jedenfalls nicht fernliegend im Sinne der eingangs dargestellten Grundsätze, dass § 8 Abs. 1 Nr. 3 RBEG verfassungswidrig ist.


Insoweit mag letztlich offen bleiben, ob diese Vorschrift das in Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt, weil der Gesetzgeber den vom BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09 (BVerfGE 125, 175 ff.) aufgestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen zur Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums für den von der Regelbedarfsstufe 3 erfassten Personenkreis nicht hinreichend Rechnung getragen hat (vgl. hierzu u.a. Münder, a.a.O., S. 82); denn unabhängig hiervon ist es zumindest denkbar, dass § 8 Abs. 1 Nr. 3 RBEG jedenfalls insofern verfassungswidrig ist, als die unterschiedliche Behandlung erwachsener Personen (nach Vollendung des 25. Lebensjahres) im SGB II und SGB XII den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.


Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BVerfGE 100, 195, 205; 107, 205, 214; 109, 96, 123). Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, dass hinsichtlich der Ungleichbehandlung an ein sachlich gerechtfertigtes Unterscheidungsmerkmal angeknüpft wird. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitsgrundsätze reichen (vgl. BVerfGE 97, 271, 290; 99, 367. 388; 107, 27, 45). Dabei ist dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Sozialrechts allerdings eine besonders weite Gestaltungsfreiheit zuzugestehen (vgl. BVerfGE 17, 210, 216; 77, 84, 106, 81, 156, 205).


Ausgehend hiervon liegt insofern eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG vor, als dauerhaft voll erwerbsgeminderte Personen, die dem Leistungssystem des SGB XII unterfallen und mit einer anderen erwachsenen Person (z.B. Eltern) in einem Haushalt leben, ohne einen eigenen Haushalt zu führen, auch nach Erreichen des 25. Lebensjahres gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 RBEG i.V.m. § 28 SGB XII lediglich Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 (i.H.v. 291,00 EUR) erhalten, während für erwerbsfähige Personen im Regelkreis des SGB II, die sich in einer entsprechenden Lage befinden, nach Vollendung des 25. Lebensjahres Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 (i.H.v. 364,00 EUR) vorgesehen sind (vgl. § 20 Abs. 2 Nr. 2 bzw. Abs. 3 SGB II, nach dem Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 3 nur volljährigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft und Unter-25-Jährigen zu gewähren sind, die ohne Zustimmung des kommunalen Trägers ausgezogen sind). Es ist aber zumindest nicht ausgeschlossen, dass diese Ungleichbehandlung sachlich nicht gerechtfertigt ist.


Zwar bestehen zwischen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe insofern Systemunterschiede, als Erwerbsfähige und damit auch über 25-Jährige im Haushalt der Eltern verpflichtet sind, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, was in erhöhtem Maße Eigenverantwortung und wirtschaftliche Beweglichkeit erfordert (so die Begründung in dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Dr. 17/4095, S. 27).


Insbesondere werden an erwerbsfähige Personen hinsichtlich ihrer Bemühungen um die Eingliederung in den Arbeitsmarkt andere bzw. höhere Erwartungen gestellt, die sich z.B. in Bewerbungskosten, Fahrtkosten der Aufwand für Bekleidung niederschlagen können (vgl. Münder, a.a.O., S. 83). Im Hinblick auf die Frage, ob bzw. in welcher Höhe diese Aufwendungen, soweit sie nicht ohnehin im Rahmen der Leistungen zur Eingliederung in Arbeit übernommen werden können und damit schon nicht regelbedarfsrelevant sind, die in § 8 Abs. 1 Nr. 3 RBEG angesetzten niedrigeren Leistungen der Regelbedarfsstufe 3 rechtfertigen, fehlt es aber bezüglich des Personenkreises im SGB XII und der dort angesetzten niedrigeren Leistungen der Regelbedarfsstufe 3 offensichtlich an entsprechenden Ermittlungen seitens des Gesetzgebers (so im Ergebnis Münder, a.a.O., S. 83; vgl. auch Gutzler in juris-PK-SGB XII, § 27a Rn. 79).



Derartige Ermittlungen waren aber möglicherweise notwendig; denn eine typisierende Betrachtung hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. - soweit ersichtlich - jedenfalls ausdrücklich nur im Zusammenhang mit der Kürzung der Regelbedarfsstufe 2 für Partnerhaushalte (auf 180 % des entsprechenden Bedarfs eines Alleinstehenden) für zulässig erachtet, während der Kläger Mitglied eines Haushalts von (mindestens) zwei weiteren Personen ist.

 Dabei kommt hinzu, dass das BSG in seiner Entscheidung vom 19.05.2009 - B 8 SO 8/08 R unter Bezugnahme auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG eine Minderung des Regelsatzes im SGB XII im Vergleich zur Höhe der Regelleistung im SGB II im Falle der Zuordnung als Haushaltsangehörige wegen der identischen sozialrechtlichen Funktion beider Leistungen, nämlich der Sicherung des Existenzminimums, für sachlich nicht gerechtfertigt erachtet hat.


Ob die unterschiedliche Behandlung Über-25-Jähriger im SGB II und SGB XII - abgesehen von möglicherweise anderen Erwartungen an die Bemühungen um eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt - im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG mit Erfolg auf weitere Systemunterschiede, namentlich die unterschiedliche Berücksichtigung von Unterhaltsansprüchen bzw. -erwartungen des haushaltsangehörigen Leistungsberechtigten gegenüber seinen Eltern und/oder die differierende Behandlung des Einsatzes von Vermögen oder der Anrechnung von Erwerbseinkommen im SGB II bzw. SGB XII, gestützt werden kann (vgl. den Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales - BT-Drs 17/4095, S. 27), ist zweifelhaft; denn es erschließt sich aus der Gesetzesbegründung jedenfalls bei summarischer Prüfung nicht, aufgrund welcher Umstände diese Unterschiede den Gesamtbedarf im SGB-II-Bereich erhöhen sollten (ähnlich Gutzler, a.a.O., § 27a Rn. 79).

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